Winteraugen (German Edition) by Rebecca Wild

Autor:Rebecca Wild [Wild, Rebecca]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783646600889
Herausgeber: Carlsen
veröffentlicht: 2015-01-24T16:00:00+00:00

***

Als sie sich kennengelernt hatten, hatte North ihr vorgeworfen, dass sie keine Ahnung hatte, was Kälte bedeutete. Rae hatte ihm nicht geglaubt, fand seine Worte theatralisch. Jetzt verstand sie ihn. Überall das Gefühl von winzigen Nadeln auf der Haut, ein Feuer ohne Hitze, und doch ein Schmerz, als würde es einen verbrennen.

Sie war aufgebrochen, ohne irgendetwas zu packen. Ohne Decken. Ohne Proviant. Doch Hunger und Durst waren nicht mal das Schlimmste. Es war diese entsetzliche, beißende, alles vernichtende Kälte.

Rae hatte ein paar Zweige gesammelt, um ein Feuer zu machen. In Sommer hatte sie das oft mit Luca gemacht, wenn sie im Grünen übernachtet hatten, aber ihre Finger zitterten zu stark und die gefrorenen, feuchten Äste wollten keinen Funken sprühen lassen.

»Komm jetzt. Bitte.« Sie rieb schon eine halbe Ewigkeit einen Zweig zwischen ihren Handflächen hin und her. Ihre Hände waren bereits ganz taub, aber nichts passierte. Nicht einmal ein kleiner Rauchfaden war zu sehen.

Frustriert schleuderte Rae den Zweig von sich. In ihren Augen brannten Tränen und sie unterdrückte einen Schluchzer.

Juni wanderte unruhig um ihre nutzlose Feuerstelle herum. Ihre Flanken bebten im eisigen Wind. Wenn die Prinzessin hier draußen erfror, würde es ihre Schuld sein. Rae zog das Lamm auf ihren Schoß und diesmal wehrte Juni sich nicht, sondern barg ihren Kopf wärmesuchend in Raes Armbeuge.

Es schneite noch immer und die umliegenden Bäume boten nur wenig Schutz. Es war zu dunkel, um weiterzureisen und zu kalt, um zur Ruhe zu kommen. Es war ein merkwürdiger Gedanke, aber in dem Moment wünschte Rae sich, North wäre hier.

Von der Feuerstelle erklang ein Knistern. Rae war sich am Anfang sicher, es sich nur eingebildet zu haben, aber das Knistern wurde lauter. Unter den gesammelten Zweigen begann es zu glühen und einen Moment später stoben die ersten Funken. Das Holz fing Feuer, die Flammen züngelten mehrere Fußbreit in die Höhe, aber es war kein gewöhnliches Feuer und Rae wich erschrocken zurück.

Die Flammen waren nicht rot oder orange-gelb, wie sie sein sollten, sondern eisblau.

Raes Herzschlag schnellte in die Höhe. Sie wusste nicht: Sollte sie weglaufen, oder … Die Wärme des Feuers kitzelte auf ihren Wangen. Rae hatte schon fast vergessen, wie sich Hitze anfühlte, eine andere Empfindung als Eis und Kälte, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, rutschte sie nach vorn und breitete die Handflächen über den zuckenden Flammen aus. Es war heiß genug, dass sie sich verbrannte, trotzdem bewegte sie sich kein Stück. Die Wärme war zu wohltuend. Ihr ganzer Körper kribbelte, als er langsam wieder auftaute.

Rae entwich ein wohliges Seufzen.

Dann sah sie das Gesicht zwischen den Flammen.

Vor Entsetzen schrie Rae auf. Sie wollte aufspringen und wegrennen, aber in ihrer Hektik fiel sie nach hinten. Dann begann das Feuer mit ihr zu reden.

»Keine Angst. Rae. Ich bin es.«

Sie kannte diese Stimme. Zögernd wandte sie sich wieder dem Feuer zu. Das Gesicht zwischen den Flammen war verblasst, kaum zu erkennen, aber jetzt, wo sie die Stimme hörte, gewannen die Züge an Deutlichkeit. Das spitze Kinn, der weiche Mund. Und die Winteraugen.

»North?« Plötzlich wollte Rae erneut wegrennen.

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